(3) Bonsaitraum

Als Leo um 22:30 Uhr unter der Dusche stand, fragte sie sich, ob sie tatsächlich noch zu Adam fahren sollte. Er hatte zwar gesagt, sie könne gerne vorbeikommen, jedoch behagte es ihr nicht, noch so spät bei ihm vorbei zu fahren.
Als sie in ihrer verwaschenen Jeans, dem alten, abgetragenen dunkelgrünen Rollkragenpullover und barfuß aus dem Umkleideraum auf den unbedachten Vorplatz trat, stand Cheng Pei Pei mitten darin und zupfte von einem Bonsai die vertrockneten Blätter ab. Leo stellte sich neben den kleinen Mann, der genau so groß war wie sie. Ganz leicht berührten sich ihre Schultern.
"Als ich die kleine Eiche damals zum ersten Mal sah, kam sie mir so unglaublich verletzlich vor", sagte Leo. "Sie war so klein und zart. Ich dachte, wie oft es passieren könnte, daß jemand über sie stolpert, weil man sie so leicht übersehen kann. Wenn ich die älteren Schüler beobachtete, wie sie hier draußen trainierten und dem Bäumchen manchmal um Haaresbreite nahekamen, so trafen sie doch nie." Leo dachte einen Moment lang nach, während Cheng weiterzupfte, ohne sie anzusehen.
"Es dauerte fast ein Jahr, bis ich begriff, daß sie ganz bewußt an dieser Stelle angehalten hatten", sprach Leo weiter. "Ich fragte mich, wie groß die Angst des kleinen Baumes sein mußte bei so vielen Angriffen. Eine Antwort darauf fand ich erst ein weiteres Jahr später, als ich zum ersten Mal selbst hier draußen trainieren durfte. Ich fand heraus, daß der Bonsai keine Angst hat."
Leo schaute gebannt dem sanften Zupfen ihres Meisters zu. Die Bewegungen seiner Finger ähnelten sehr denen ihres Vaters, wenn er an den winzigen Uhrwerken herumgezupft hatte und gleichzeitig ihr und Gorden von dem Phänomen Zeit erzählt hatte.
"Es gibt eine Legende, in der gesagt wird", der alte Mann machte eine kleine Pause und zupfte ein weiteres Blatt ab, "daß man die zu Laub gewordenen Blätter einer solchen Eiche unter sein Kopfkissen legen soll, auf das man sich bettet. Der Traum, den man in dieser Nacht träumt, wird angeblich wahr."
Cheng Pei Pei drehte sich Leo zu und hielt ihr seine geschlossene rechte Faust hin, in der sich die abgezupften winzigen Blätter befanden. Leo öffnete und legte ihre Hände wie zu einer Schale geformt unter die Hand Chengs. Vorsichtig gab der alte Meister seiner Schülerin das Laub und lächelte.
Leo lachte verhalten zurück. Sie nahm die Blätter in die rechte Hand und zog mit der linken das schwarze Seidentuch aus ihrer Hosentasche. Sie hockte sich hin, legte das Tuch auf den Boden und streute die Blätter auf das Tuch. Sie knotete die Seide zusammen und nahm sie in die Hand. Als sie aufstand, sah sie Cheng direkt in die Augen.
"Was würdest du tun, wenn ich dir nicht mehr vertraute, Cheng?" fragte sie.
"Ich würde dich wahrscheinlich töten", antwortete dieser so schnell, daß es Leo überraschte. Sie trat zwei Schritte zurück.
"Warum fragst du mich das, Leo?" Chengs Gesicht blieb die Fassade, die es immer wahrte, wenn er zutiefst berührt war.
Leo senkte ihren Blick und betrachtete den Boden vor ihren Füßen. "Manchmal habe ich Angst davor, mein Vertrauen zu verlieren", antwortete sie. Cheng schwieg. Eine kurze Pause entstand. "Wann werde ich ...?"
"Das wirst du wissen, wenn es soweit ist", unterbrach er sie.
Der alte Chinese lächelte. "Du solltest dich vor allem in Geduld üben, Leonore Pinkerton. Geduld ist das Maß deiner Konzentration."
Leo deutete eine Verbeugung an und drehte sich um. Cheng wandte sich sofort wieder dem Bonsai zu, als seine beste Schülerin langsam über den großen Platz nach draußen ging. Als sie durch die Tür hindurch war, schlüpfte sie in ihre leichten Lederstiefel und verließ nachdenklich das Gelände der Schule.

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