(7) Nachricht von Rain

Ihre Taschenuhr zeigte zwei Uhr, als sie Dr. Treese verließ. Sie hatte ihn noch eine ganze Weile festgehalten, als sie sich zum Abschied umarmten. Für Leo war das Zusammensein mit Adam wie der Aufenthalt an einer Tankstelle. Er gab ihr die Menge an Kraft, die sie benötigte, um in den nächsten zwei bis drei Wochen gut zu funktionieren, bevor sie das Bedürfnis verspürte, wieder zu ihm zu fahren. Manchmal sprachen sie auch nicht miteinander. Dann spielten sie nur Schach und tranken etwas Wein.
"Eigentlich rede nur ich", sagte Leo, als sie die Interstate bereits wieder verlassen hatte. "Adam sagt fast nie etwas. Früher hat er viel mehr gesagt, weißt du." Leo sprach mit Honnecker. Wenn niemand mit im Auto saß, und das kam höchst selten vor, dann sprach Leo mit Honnecker. Sie sprach auch mit ihrem Großvater, der schon seit drei Jahren tot war. Und ganz selten sogar immer noch mit Gordon. Aber nur, wenn es unbedingt notwendig war. Leo hielt sich für verrückt. Deshalb trug sie grundsätzlich, wenn sie in der Öffentlichkeit unterwegs war, ein Headset. Damit es nicht auffiel, daß sie mit sich selbst sprach.
Sie erinnerte sich an die ersten zwei Jahre, in denen sie zu Treese gegangen war. Es war auch vorgekommen, daß sie in den Sitzungen gar nichts gesagt hatte. Adam auch nicht. Plötzlich mußte Leo lachen. "Echt verrückt", sagte sie und hielt ihren linken Arm nach draußen. Der Blinker funktionierte seit einigen Tagen nicht.
"Was mach ich nur, wenn Adam stirbt?" Dieser Gedanke kam ihr nicht zum ersten Mal. "Dann geht das Leben weiter, Leo", gab sie sich selbst die Antwort.
Ihr Handy teilte ihr mit, daß sie eine Nachricht erhalten hatte. Sie bog in die kleine Straße ab, in der sie mit ihrem jüngsten Bruder Sammy ein winziges Häuschen teilte. Ihre Wohnung lag über dem ehemaligen Uhrmachergeschäft, das zuerst ihr Großvater, dann ihr Vater und später sie selbst lange Zeit geführt hatte. Jetzt lagerte eine kleine Elektrofirma für 700 Nuyen ihre Waren in dem alten Geschäftsraum.
Im ersten Stock des Hauses brannte Licht. Leo stieg aus dem Wagen, nahm ihre Tasche vom Rücksitz und drückte die Tür des alten Honnecker zu. Sie schloß das Auto nicht ab. Niemand würde ihn stehlen, weil er von außen aussah, als würde er jeden Augenblick zusammenfallen. Außerdem hatte ihr Vater sich links unter dem Fahrersitz einen Schalter einbauen lassen, dem man betätigen mußte, bevor man den Motor starten konnte, ohne eine Alarmanlage in Gang zu setzen, die halb Seattle alarmierte. Mehrfach hatte man versucht, mit dem Auto davonzufahren, aber der Dieb war jedesmal ohne Auto geflüchtet.
Manchmal, als Leo und Gordon noch ganz klein waren, und sie mit den Eltern durch die Gegend gefahren sind und die Alarmanlage noch neu war, vergaß der Vater den Hebel umzustellen, wenn sie nach einem Aufenthalt weiterfuhren. Alle Leute in der Nähe erschraken fast zu Tode. Der Alarm erinnerte an die Sirene einer Fabrik, wenn Feierabend war. Einige Jahre später hatte die Anlage einen Wackelkontakt. Aus heiterem Himmel ging der Alarm los und war manchmal Minuten lang nicht zu stoppen. Leos Vater hantierte nervös an dem Hebel herum, die Mutter sah sich ständig nach aufgebrachten Leuten in der Nähe um, weil ihr das ganze total peinlich war und Leo und Gorden hielten sich die Ohren zu. Und wenn der Großvater auch noch im Auto saß, heulte er mit dem Alarm im Chor.
Leo schmunzelte bei dieser Erinnerung und fragte sich, warum man heutzutage immer noch "aus heiterem Himmel" sagte, wo doch der Himmel gar nicht mehr heiter war.
Sie las die Nachricht von Rain, als sie auf das Haus zuging. Morgen, 11:00 Uhr bei Byron. Habe Job für dich, Gruß Rain. Sie steckte das Handy ein und schloß die Haustür auf. Drinnen brannte Licht. Sie schloß dreimal hinter sich ab und legte den eisernen Riegel vor, der über die gesamte Türbreite ging. Sie stieg die schmale Trappe hinauf, die am ehemaligen Laden vorbeiführte, registrierte, daß der Treppenaufzug sich oben befand, stellte ihre Tasche im Flur ab und ging direkt in die Küche.
Es brannte Licht, aber niemand befand sich im Raum. Aus dem Kühlschrank holte sie eine Flasche Milch und stellte sie auf den Tisch, auf dem noch das Geschirr vom Nachmittag stand, das Sammy wie üblich hatte stehen lassen. Sie nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Milch. Langsam trank sie im Stehen das Glas leer.
Habe Job für dich, rief Leo sich Rains Nachricht ins Gedächtnis. Das war genau das, was sie brauchte. Einen Job, mit dem sie schnell viel Geld verdienen konnte. Sie hoffte, daß es nicht wieder so ein Job wie beim letzten Mal war, von dem sie fast nicht zurückgekommen wäre. Leo räumte das Glas in die Spüle und die Flasche zurück in den Kühlschrank, knippste das Licht aus und ging ins Wohnzimmer, in dem ebenfalls Licht brannte. Niemand befand sich darin.
Sie ging weiter zu Sammys Zimmer, klopfte kurz, horchte und öffnete dann leise die Tür. Ihr Bruder lag in seinem Bett und schlief. Eine Nachttischlampe warf einen sanften Lichtschein auf das entspannte Gesicht. Der alte Rollstuhl stand direkt neben dem Bett. Auf der Sitzfläche lag fein säuberlich zusammengefaltet die Kleidung, die er an diesem Tag getragen hatte. Wenn Leo nicht zuhause war, ließ Sam immer alle Lichter brennen. Das Licht an seinem Bett blieb die ganze Nacht über an.
Leo ging nach oben in den zweiten Stock und in den Teil des Hauses, das sie ihr kleines Reich nannte. Es gab dort ihr Zimmer, ihre Werkstatt und gleichzeitiges Arbeitszimmer, sowie ein kleines Bad. Im Flur zog sie ihre Stiefel aus, dann die Strümpfe und ging barfuß ins Arbeitszimmer. Ohne zu zögern setzte sie sich an den großen Werktisch und begann die kleine, alte Damenarmbanduhr weiter zu reparieren, die sie bis morgen Mittag fertig haben mußte. Es wurde halb fünf, bevor sie schlafen ging.

Leo hatte nur knapp drei Stunden geschlafen. Sie lag wach in ihrem Bett und dachte über das Schachspiel mit Adam Treese nach. Sie fragte sich, wie sie es je schaffen sollte, ihn von ihrer Theorie zu überzeugen, mit deren Hilfe für sie alles Geschehene der letzten 13 Jahre plausibel erklärbar war. Leo war nicht verrückt, daß wußte sie. Aber sie wußte nicht, ob Adam sie für verrückt hielt. Sie war sich einfach nicht sicher. Manchmal.
Sie setzte sich auf und rieb sich kurz das Gesicht. Fröstelnd zog sie sich hastig eine Hose und einen Wollpullover über. Sie schlüpfte in ihre Stiefel und trat auf das Fenster zu. Sie zog die schweren Samtvorhänge auf. Der alte Stoff roch nach Staub und vergangener Zeit. Schon Leos Großeltern hatten diese Vorhänge in diesem Zimmer vor den Fenstern hängen, in dem sie ihr Büro hatte. Draußen dämmerte es. Niemals würde sie das kleine Häuschen gegenüber dem winzigen Park aufgeben wollen. Es gab nicht viele Möglichkeiten für einen solchen Ausblick in Seattle. Vielleicht in Bellevue, wo die Villen standen. Dort, wo sich auch das riesige Anwesen von Josua Grüning befand, in dem dieser seine und Leos Uhrensammlung hütete wie einen Schatz.
Leo kannte den alten Sammler seit ihrer Kindheit. Ihr Großvater Hazel Pinkerton und Grüning waren schon während der Schulzeit beste Freunde gewesen und blieben es, bis Hazel vor drei Jahren starb. Sein Nachlaß, den er komplett Leo überließ, bestand aus einer Sammlung von ca. 50 Taschenuhren sowie Armbanduhren unbekannter Zahl, die Grüning ebenfalls bei sich aufbewahrte. Leo war ihm sehr dankbar, da das Anwesen fast so gut bewacht war wie der Hochsicherheitstrakt mancher Konzerngebäude.
Es gab so viele Dinge, die ihr durch den Kopf gingen, weshalb sie so oft schlaflose Nächte in ihrem Bett oder an ihrer Werkbank verbrachte. Die kleine Armbanduhr lief wieder und zeigte 7:39 Uhr. Leo sah auf ihre Taschenuhr, um zu prüfen, ob die Zeit stimmte. Noch zwei Stunden, bis sie los mußte, um gegen 11 Uhr bei Byron zu sein. Barfuß ging sie nach unten in den ersten Stock, um in der Küche Kaffee aufzusetzen.
Sammy saß am Küchentisch und las in einem Buch. Er las beim Essen immer in einem Buch. So, wie Leos Welt hauptsächlich aus Uhren bestand, so bestand Sams Welt aus Büchern. Er erlebte nicht sein Leben, sondern las sein Leben. Leo konnte ihm nicht helfen, weil er sich nicht helfen lassen wollte. Er war seit seinem Motorradunfall noch verschlossener als vor dem Unfall. Jetzt fühlte er sich als Krüppel und war der Meinung, daß er für nichts und niemanden mehr nützlich sei. Er konnte für sich selbst sorgen. Hin und wieder schrieb er billige Geschichten für schmuddelige Online-Magazine, um ein paar Nuyen zu dem bißchen dazu zu verdienen, das Leo für die Reparatur von Sammleruhren bekam.
Wenn Sie auf einen Run ging und manchmal mehrere Tage fortblieb, fragte er nach ihrer Rückkehr nicht danach, womit sie sich das Geld verdient hatte, das sie nach Hause brachte. Manchmal kam es auch vor, daß die beiden sich tagelang nicht sahen, obgleich sie sich im selben Haus aufhielten. Das geschah immer dann, wenn Leo sich in ihrer Werkstatt mit ihren Depressionen zusammen einschloß und Briefe an Gordon, ihren toten Zwillingsbruder schrieb.