(5) Stunde 1.479

Leo saß mit Adam Treese in dessen mit Büchern zugerammelten Wohnzimmer. Er hatte bereits das Schachbrett aufgebaut, eine geöffnete Flasche Wein hingestellt und zwei Gläser dazu. Sie erzählte von den Blättern, die Cheng ihr gegeben hatte.
"Cheng sagt, wenn man die Blätter unter sein Kopfkissen legt, würde der Traum, den man in der nächsten Nacht hat, wahr werden." Leo lachte. "Ich kenne das nur mit Scates."
"Was?" fragte Adam und hielt seiner Besucherin zwei geschlossene Fäuste hin.
"Man legt einen Milchzahn oder ein paar Nuyen unter sein Kopfkissen, und am nächsten Morgen hat man Scates oder so." Leo tippte auf die linke Faust.
"Ich glaube, das ist ein kleines bißchen anders." Treese lächelte und drehte das Schachbrett so, daß sich die weißen Figuren nun vor Leo befanden. "Du fängst an."
Sie zog den weißen Bauern von e2 nach e4.
Adam bewegte sein Pferd von g8 nach f6. "Gibt es einen Traum, von dem du dir wünscht, daß er in Erfüllung geht?" fragte er und blickte Leo kurz direkt in die Augen. Sie hielt seinem Blick stand. Sie hatte noch nie ein Problem damit gehabt, diesem Menschen in die Augen zu sehen und die Wahrheit zu sagen. Adam Treese war Leos Seelenheiler, so nannte sie es selbst seit ihrem zehnten Lebensjahr. Als sie ihr fünfzehntes Lebensjahr erreichte, ging sie nur noch einmal in der Woche zu ihm. Als sie zwanzig war, hörte er damit auf, Geld für die Stunde zu nehmen, weil es ihm so zur Selbstverständlichkeit geworden war, Leo auf ihrem Lebensweg zu begleiten, daß er sich regelrecht schlecht vorkam, immer noch für die Gespräche bezahlt zu werden. Später, als Leo bereits die Uhrmacherwerkstatt ihres Vaters übernommen hatte, trafen sie sich nur noch alle zwei bis drei Wochen, um Schach zu spielen und dabei auch zu reden. Manchmal einfach nur so wie jetzt.
"Nach 1.479 Stunden, in denen wir geredet haben, Adam, bin ich mir hundertprozentig sicher, daß Sie wissen, welcher Traum das ist", seufzte Leo und setzte ihren Läufer von f1 nach c4. "Gor wiederzusehen."
Sie sahen sich erneut an. "Waren Sie eigentlich sehr verzweifelt, als Sie erkannten, daß Sie an mir gescheitert sind?" fragte sie.
"Glaubst du das wirklich, Leo?" fragte Treese und zog seinen Bauern von b7 nach b5.
"Ja, das glaube ich", kam es nachdenklich zurück. Sie zog ihren Läufer von c4 nach b3 zurück. "Es ist Ihnen bisher nicht gelungen, mich von Gor zu befreien. Mein sehnlichster Wunsch ist es, ihn wiederzusehen. Sie wissen, daß ich daran glaube, daß das geschehen wird, obwohl jeder glaubt und auch behauptet, daß er seit über zwanzig Jahren tot ist. Glaube steht gegen Glaube."
"Aber es ist der Glaube einer einzigen Person, nämlich dir gegen viele andere Personen." Treese runzelte die Stirn beim Nachdenken darüber, welche Figur er bewegen sollte."
"Der Glaube an ein Wiedersehen ist der einzige Grund, warum ich in dieser beschissenen Welt überlebt habe", kam es abfällig zurück.
Treese zog seinen Bauern von d7 nach d5. "Wie stellst du es dir vor, das Wiedersehen?" fragte Treese ruhig und beobachtete, wie Leo mit ihrem Läufer von b3 seinen Bauern auf d5 schlug. Treese nahm mit seinem Pferd von f6 Leos Läufer von d5. Mit ihrem Bauern von e4 nahm sie wiederum das Pferd von d5.
"Ich würde mich wahrscheinlich totweinen", beantwortete sie die Frage. "Kann man das, sich totweinen?"
Treese setzte seine Dame von d8 auf d5 und stellte Leos Bauern neben das Spielbrett zum Läufer. "Spielen wir mal kurz Räuberschach", konstatierte er und schmunzelte. "Ich denke schon, daß es das gibt", ging er auf ihre Frage ein." Du stehst übrigens im Schach. Man nennt das dann vermutlich, an gebrochenem Herzen gestorben sein."
"Wieso Schach?" Leo konnte keine Schachposition entdecken, in der sich ihr König befand.
"Nach deinem nächsten Zug", erklärte er.
"Gebrochenes Herz, ich weiß nicht. Ich glaube, ich könnte einfach nicht mehr aufhören zu weinen." Leo zog ihren Bauern von c2 nach c4. "Gardé."
Treese stellte seine Dame von d5 auf e5. "Sag ich doch - Schach."
Leos Dame zog von d1 nach e2. "Gardé."
Treese zog seinen Bauern von f7 auf f6, um die Dame zu decken.
"Okay, dann muß ich wohl in die Offensive gehen", meinte Leo. Sie zog ihr Pferd von g1 auf f3 und bot erneut gardé.
"Und wenn ich dir glauben würde?" fragte Treese während er seinen Läufer von c8 nach g4 zog.
"Daß Gordon lebt?" Leo lachte laut und sah Treese an. "Wenn Sie mir glaubten, dann hätten wir uns längst gemeinsam auf die Suche nach Gordon gemacht, oder?"
Sie setzte ihr Pferd von b1 nach c3.
Adam reagierte sofort, indem er sein Pferd von b8 auf c6 stellte, als hätte er nur auf Leos Zug gewartet.
"Aber wir haben uns zusammen auf die Suche gemacht, Leo", erwiderte Treese ruhig. "Wir haben uns sogar mehrmals auf die Suche gemacht."
Leo setzte ihr Pferd von c3 auf d5. "Es ist aber nichts dabei rausgekommen. Deshalb glauben Sie mir nicht. Wie sollten Sie auch. Es fehlte ja immer der Beweis dafür, daß Gor noch lebt." Sie beobachtete, wie Treese die große Rochade vollzog. Sein König stand nun auf c8 und sein Turm auf d8.
"Es gibt den Beweis, daß Gordon tot ist, Leo. Darüber haben wir mindestens schon hundertmal in den letzten zwanzig Jahren gesprochen. Oder?"
Sie zog ihren Bauern energisch von h2 auf h3.
Treese nahm seinen Läufer von g4 zurück nach h5.
Leo stellte ihren Bauern unmittelbar von g2 auf g4.
Treese reagierte, indem er seinen Läufer von h5 nach f7 zog. Ohne zu zögern setzte Leo ihr Pferd von f3 auf e5 und schlug Adams Dame. Treese wußte, daß er Leo an einer Stelle getroffen hatte, die gefährlich war. Sobald es darum ging, ihr zu erklären, daß Gordon nun schon seit 23 Jahren tot war, setzte bei ihr irgend etwas aus. Treese nahm ihr Pferd auf e5 mit seinem Bauern vom Spielfeld.
Normalerweise gab sie immer an, wenn sie seine Dame bedrohte. Den Angriff auf ihr Seelenleben mußte er jetzt damit bezahlen, daß er einen Moment nicht aufgepaßt hatte. Leo war offensichtlich ziemlich sauer. Sie zog ihren Bauern von b2 auf b3.
Sie bewegten ihre Figuren einige Minuten lang, ohne miteinander zu reden.
Schwarzer Bauer von g7 auf g6.
Weißer Läufer c1 auf a3.
Schwarzer Läufer von f8 auf h6.
Leos Läufer von a3 schlägt Adams Bauer auf e7.
Adams Pferd auf c6 schlägt Leos Läufer auf e7.
Leos Pferd von d5 schlägt Adams Pferd e7. "Schach." Leo lehnte sich zurück. Sie nahm das Glas, in das Treese etwas Rotwein nachgeschenkt hatte.
"1.479 Stunden?" Adam zog mit seinem König von c8 nach b7. "Soviele schon?"
"Unglaublich, nicht wahr?" Leos Dame von e2 schlug Adams Bauern auf e5. "Und das nur, weil ich mich nicht dem Glauben der anderen anschließen will."
"Also, ich spiele gerne mit dir Schach, Leo." Adam schug mit seinem Läufer von h6 Leos Bauern auf d2. "Und Schach."
"Verdammt." Leos zog ohne nachzudenken ihren König von e1 nach f1 und erwiderte: "Ich auch, Adam."
"Warum muß man dich immer erst herausfordern, Leo?" seufzte Adam und schickte seinen Turm von d8 nach d3.
"Weiß nicht," antwortete sie. "Anfangs bin ich immer unsicher. Ich habe ja nie eine Strategie." Sie schlug den Bauern b5 mit ihrer Dame von e5. "Schach."
"Also, das glaubst aber auch nur du", lachte Adam und zog seinen König von b7 nach a8.
Leo seufzte leise. "Ich kriege Sie, Adam", murmelte sie. "Heute gewinne ich." Sie nahm das halbvolle Glas und trank es in einem Zug leer.
Ganz langsam nahm Leo das weiße Pferd von e 7 und setzte es leise auf c6. Sie blickte auf und lächelte nicht. Adam Treese las in ihren Augen, daß sie ihm böse war. Immer, wenn er sagte, daß Gordon tot war, war sie ihm böse. Sie erinnerte dann an die zehnjährige Leo, die seine Geduld oft genug damit auf die Probe gestellt hatte, indem sie ihn eine Stunde lang anschwieg. Das hatte ihn tatsächlich mehrfach aus der Fassung gebracht.
"Okay", sagte er und legte seinen König hin. "Matt." Er lächelte Leo an. "Hin und wieder schaffst du es immer noch."
"Was?" fragte sie.
"Mich zu überraschen."