(1) Dämmerung


Es regnete. Der Himmel über Seattle war so wolkenverhangen, daß es unmöglich war, sich vorzustellen, daß es Tage gab, an denen tatsächlich die Sonne schien. Leo zog drei Schubladen auf, bevor sie in einer vierten zu wühlen begann. Sie zog ein schwarzes Seidentuch hervor, schlug es mit beiden Händen glatt und faltete es in der Mitte zu einem Dreieck. Mit seit Jahren geübtem Griff schlug sie es sich um den Hals, griff schnell nach einem kleinen Parfümfläschchen, besprühte sich rechts und links unter dem Ohr und eilte aus dem Zimmer. Sie hüpfte fast die Treppe hinunter und ging in die Küche. Sammy saß am Tisch und las in einem Buch während er Cornflakes aß. Leo warf ihm einen leicht mißbilligenden Blick zu. Sie haßte das laute crunchende Geräusch, daß Sam beim Essen machte. Vor allem deshalb, weil er es besonders laut beherrschte und es auch tat.
"Gehst du?" fragte er, ohne von seinem Buch aufzusehen.
"Ja."
"Wann kommst du zurück?
Vielleicht nie, dachte Leo und antwortete. "Keine Ahnung."
Sammy sah auf. Ihre Blicke trafen sich wie so oft in letzter Zeit nur kurz. "Geht es dir gut?" fragte er.
"Ja, Sammy." Sie drückte ihm einen Kuß auf die Wange. "Mach's gut, Kleiner." Sie schnappte sich ihre Trainingstasche und verließ das Haus.
Schnellen Schrittes ging sie zu ihrem alten Ford, öffnete die Fahrertür, warf die Tasche auf den Beifahrersitz und ließ sich hinter das Lenkrad fallen.
"Weißt du, Honnecker", sagte sie, als sie die Tür mit voller Wucht zuzog. "Manchmal denke ich, mein Leben könnte viel einfacher sein."
Niemand saß im Auto außer Leo. Sie nannte den Wagen Honnecker, weil er schon Honnecker hieß, als ihr Vater ihn 2023 von seinem Vater übernahm. Honnecker war ein Familienauto. Der Großvater hatte es 1998 von einem Gebrauchtwagenhändler gekauft und Honnecker, aber niemand wußte, warum.
Der alte Ford hatte schon einiges mitgemacht. Einen Unfall verursachte der Großvater selbst. Achtzehn Jahre später saßen Leo, ihre Eltern und zwei ihrer Brüder darin, als der Motoradfahrer direkt in sie hinein fuhr. Der letzte Unfall lag sieben Jahre zurück, als Leo mitten auf der Interstate, zum Glück nur mit 90 km/h, der rechte Vorderreifen platzte. Honnecker schlidderte etwa 50 Meter an der Leitplanke entlang, bevor er zum Stehen kam. Seitdem brauchte der Wagen immer drei Anläufe, bis der Motor lief.
Leo verließ Takoma, die Gegend, in der sie wohnte, über kleine verwinkelte Gassen, bis sie die Auffahrt zur Interstate erreichte. Ihr Ziel war Renton, wo sich das Dojo befand. Für andere weniger antiquierte Autos dauerte die Fahrt dorthin nur eine viertel Stunde. Honnecker legte die Strecke in einer halben Stunde zurück. Er war kein normales Auto. Er war alt.
Um 20:30 Uhr setzte die Dämmerung ein. Allerdings fiel das an diesem Tag weniger auf. Man hätte auch meinen können, Seattle sei im Dauerdämmerzustand, weil sich der bedeckte Himmel nach der Morgendämerung nicht aufgeklärt hatte. Leo fragte sich, ob es vielleicht inzwischen so war, daß es gar keinen Tag mehr gab, sondern nur noch einen Zustand zwischen Tag und Nacht.

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