(6) Drittes Erwachen

Als Flash wieder aufwachte, war es Tag. Über einer Stuhllehne entdeckte er seine völlig ausgeblichene Jeans, die früher mal blau gewesen war, und nun heller als der Himmel von Seattle. Er schlüpfte in die offensichtlich frischgewaschene Hose und zog sein weißes T-Shirt über. Unter dem Stuhl standen ein paar Bikerstiefel, von denen er genau wußte, daß sie nicht ihm gehörten, die er aber getragen hatte, als er sich neben dem Müllhaufen wiedergefunden hatte.
Er ließ die Stiefel stehen und begab sich barfuß in den Flur. Es war so still, daß Flash das Gefühl hatte, sein Herz klopfen zu hören. Er sah nur kurz in den Raum gegenüber seinem Zimmer. Niemand war darin. Flash ging den Flur entlang, die Treppe hinunter und landete unten in einer Küche, die der Treppe gegenüber lag. Auf dem Küchentisch fand er einen Zettel. Buzz hatte ihm aufgeschrieben, daß Flash sich aus dem Kühlschrank bedienen könne und er gegen Mittag wieder da sei.
Er fragte sich, wie spät es sein mochte und sah augenblicklich das rote Display mit der Uhrzeit in seinem rechten Auge. 09.21.0576325
Flash warf einen Blick in den Kühlschrank und betrachtete eine Weile den recht spärlichen Inhalt. Er nahm lediglich einen Becher Joghurt und eine Flasche Milch heraus. Die restlichen Nahrungsmittel waren ihm sehr suspekt, zumal er sich nicht daran erinnern konnte, solcher Art Lebensmittel regelmäßig zu sich genommen zu haben. Er sah ein Bild vor Augen, in dem er offensichtlich an einem reichhaltig gedeckten Tisch saß.
Er ging wieder nach oben in den Raum mit dem blauen Sofa, stellte den Joghurt und die Milch ab und schaltete mit einer Fernbedienung, die auf dem Tisch lag, das Trideo ein, das sich an der gegenßüber liegenden Wand befand. Auf dem Bildschirm tauchten Bilder auf. Er tippte so lange auf den Tasten herum, bis er einen Nachrichtensender fand. Es gab die üblichen Meldungen: Hier eine Schießerei, da ein ungeklärter Unfall, in den vermutlich eine Straßengang verwickelt war, die man schon seit längerem verschiedener Unfälle verdächtigte. Irgendwo hatte es eine Explosion gegeben, bei der drei Menschen und ein Ork getötet worden waren. Es wurde kurzfristig der Ort des Geschehens gezeigt, der eine der Leichen mit zerfetzten halben Beine zeigte. Sie waren offensichtlich weggesprengt. Flash stellte fest, daß die Bilder ihn nicht im Geringsten berührten. Er hatte ganz andere Dinge gesehen. Dinge, die mit denen auf dem Bildschirm kaum zu vergleichen waren.
Er begann wieder auf den Knöpfen der Tastatur herumzuspielen und blieb an einem Bild hängen, das eindeutig einen Zugangscode zum Netz verlangte. Flash zog die Tastatur näher zu sich heran und tippte ohne zu zögern eine Zahlen- und Buchstabenkombination ein. HSP.02.10.77. Er wußte, daß er diesen Code benötigte, um direkt dorthin zu gelangen, von dem er nicht wußte, was es war. Flash landete auf einer Seite, die ihm blinkend die Meldung "Default" brachte. Die gesuchte Seite war nicht aktiv.
"Scheiße", zischte er und gab über eine Suchmaschine den Begriff "Amnesie" ein. Er erhielt 1.589.736 Einträge. Flash schränkte die Suche durch das Zufügen des Begriffes "totale" ein. Es blieben 2.942 Einträge übrig. "Na klasse", fluchte er. Er lehnte sich zurück und griff sich durch das braune kurze Haar und fragte verzweifelt: "Was kann ich nur tun?"
Flash hörte die Treppe leise knarren und hatte sich innerhalb einer Sekunde wieder in der Gewalt. Er schloß die Verbindung zum Netz und schaltete einen Musiksender ein, auf dem gerade Metall lief.
"Hi, du hast es dir gemütlich gemacht", begrüßte Buzz ihn, als er in den Raum trat. Der junge Mann, Flash vermutete sein Alter zwischen 24 und 27, setzte sich in den Sessel gegenüber. "Wie geht's?"
"Ich habe keine Kopfschmerzen mehr", erwiderte Flash süffisant.
"Ja, Justine ist offensichtlich besser, als ich dachte." Buzz nahm die Flasche Milch, die auf dem Tisch stand und drückte den Aludeckel ein. Er setzte die Flasche an und trank mit lautem Schluckgeräusch daraus. Mit dem Handrücken wischte er sich den Milchrand vom Mund. "Und? ist dir irgendwas eingefallen? Vielleicht dein Name?"
"Kannst mich ja John Doe nennen", grinste Flash erneut.
Buzz schüttelte den Kopf. "Quatsch! Mit so einem Namen kommst du in Seattle nicht weit."
Flash lachte. "War auch nicht ernst gemeint. Nenn mich Flash. Ich glaube zwar, daß das nicht mein richtiger Name ist, aber mir schwant, daß man mich so genannt haben könnte."
"Ja, steht ja auch auf deiner Lederjacke", grinste Buzz. "Flashlight."
Flash schloß die Augen und dachte gar nichts. Aber er empfand den Klang dieses Namens, den Buzz gerade genannt hatte, wie etwas, das immer schon zu ihm gehörte, seit er sich erinnern konnte. Er stand auf und ging kurz in das Zimmer gegenüber. Er kam mit der Lederjacke und den Bikerstiefeln zurück. Er hielt die Jacke so, daß er auf dem Rücken den signalroten Schriftzug lesen konnte.
"Flashlight", murmelte er. "Muß meine Jacke sein. Weiß nicht warum, aber ich kenne die." Er setzte sich aufs Sofa und zog die Stiefel an.
"Okay, Flash", sagte Buzz und beugte sich vor zu ihm. "Jetzt, da du einen Namen hast, solltest du dir überlegen, wie es weitergeht."
"Ich denke, ich sollte vor allem so schnell wie möglich herausfinden, wer ich bin," erwiderte er.
"Und wie willst du das machen?" fragte Buzz. "Du kennst außer mir niemanden hier. Du hast kein Geld, du hast keine Wohnung. Du bist im Moment eine Null, Junge. Ein John Doe eben. Was kannst du? Weißt du das? Bevor du das nicht weißt, geht gar nichts. Hast du eine Sin? Wenn du eine hast, kannst du ganz schnell rauskriegen, wer du bist. Wenn du keine hast, gehe ich davon aus, daß du hin und wieder mit illegaler Scheiße zu tun hast. Aber damit weißt du immer noch nicht, was du gemacht hast. Vielleicht bist du Rigger, die Grundtechnik scheint in dir zu stecken. Vielleicht bist du auch ein Simulant und sollst dich in die Szene einschleichen. Alles schon da gewesen, Junge, t'schuldige, Flash." Buzz stand auf und sah ihn ernst an. "Aber ich will dir was sagen. Ich mag dich irgendwie. Du hast etwas an dir, daß dich sympathisch macht. Und falls du tatsächlich an einer Total-Amnesie leidest, dann will ich nicht derjenige sein, der dich in diese Wildnis da draußen geschickt hat. Da wir nicht wissen, was du alles kannst und nicht kannst, könnte es sein, daß du diesen Tag nicht überlebst." Buzz holte tief Luft.
Flash sah Buzz irritiert an. "Hast du das öfter?" fragte er.
"Was?" kam es verständnislos zurück.
"Solche Worttiraden?" Flash lächelte und stand auf. Er klopfte Buzz auf die Schulter. "Ich finde dich auch nett, Buzz, danke. Kennst du irgend jemanden, einen Decker oder einen Arzt, an den ich mich wenden kann? Vielleicht sollten wir tatsächlich als erstes herausfinden, was alles so in mir steckt."

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Hallo.
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